« Cassis zückt die Tessiner Karte »

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Tages-Anzeiger, 16.11.19, S. 4.

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Das ganze Interview 

Fragen: Fabian Fellmann, Bundeshausredaktor Tages-Anzeiger, 13.11.19, 15:34, via Email.

Antworten: Nenad Stojanović, Universität Genf, 14.11.19, 00:30, Via Email.

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Was ist die Studienlage: Gibt es Anti-Tessiner-Reflexe in der Schweiz?

In der Regel sind die Tessiner eher al Sympathieträger in der Schweiz gesehen. Von einem verbreiteten Anti-Tessiner-Reflex kann nicht die Rede sein. Aber die Tatsache, dass im Bundesbern viele Politiker und Beamte kein Italienisch können kann schon bei gewissen Themen zu Diskriminierungen führen. 

Wie äussern die sich?

Ich gebe drei Beispiele. (1) Während vielen Jahren stand in den Ausschreibungen für die Stellen in der Bundesverwaltung: “Muttersprache Deutsch oder Französisch”. Erst die Interventionen der Tessiner Parlamentarier haben diese diskriminierende Praxis geändert. (2) Als die damalige Justizministerin Ruth Metzler und ihre Chefbeamten zwei Orte für die neuen Bundesgerichte suchten, wurde der mögliche Standort Bellinzona vom Anfang an ausgeschlossen. Sie vermuteten, man findet nicht genug Richter, die ins Tessin mit ihren Familien ziehen wollen, weil dort Italienisch die Amtssprache ist. Das hat Frau Metzler sogar in einer parlamentarischen Debatte offen zugegeben. Am Ende konnte das Tessin eine Allianz mit der Ostschweiz schmieden und eine Mehrheit im Parlament finden, so dass es heute Bundesgerichte in St. Gallen und in Bellinzona gibt. Grössere Probleme hat das nicht verursacht, was eben beweist, dass es schlicht und einfach um Vorurteile handelte. (3) In einer Studie zu Bundesratswahlen konnte ich zeigen, dass mehrmals die qualifizierten Tessiner Bundesratskandidatinnen und -kandidaten – zum Beispiel Fulvio Pelli 2003 oder Marina Carobbio 2011 – nur deshalb übergangen wurden, weil sie Italienischer Sprache waren und man unbedingt einen Deutsch- oder Westschweizer wollte. 

Ist Cassis Ihrer Ansicht nach ein Opfer von Anti-Tessiner-Reflexen?

Das glaube ich nicht. Es ist seine Politik – zum Beispiel die Art und Weise, wie er das EDA führt oder die neue Ausrichtung der Entwicklungshilfe angeordnet hat –, die stört. Wenn man heute von seiner Abwahl spricht, es ist weil die FDP mit 15,1% Wähleranteil und zwei Bundesratsmitglieder (was einer Quote von 28,6% entspricht) die am stärksten übervertretene Partei in der Landesregierung ist. Seine FDP-Kollegin Karin Keller-Sutter ist seit kürzerer Zeit im Amt, stört politisch weniger und ist eine Frau: dementsprechend ist ihre Abwahl heute kein Thema. Grundsätzlich glaube ich aber, dass Herr Cassis zu seiner Politik stehen soll anstatt sich in eine Opferrolle darzustellen, weil er aus einem anderen Kulturraum kommt oder einer Sprachminderheit angehört.

Was würde es für das Tessin bedeuten, wenn Cassis abgewählt würde?

Die italienische Schweiz war eine lange Zeit im Bundesrat abwesend, zwischen 1999 und 2017, teilweise eben weil viele im Parlament falscherweise glauben, für ihre Parteien ist es rein wegen Wahlkalkül besser, Bundesräte aus den Sprachregionen zu haben, wo die meisten Wähler wohnen, also aus der Deutsch- und Westschweiz. Das ist bei vielen eine Idee Fixe, die aber mit der Realität wenig zu tun hat. Hat etwa die Präsenz von Guy Parmelin im Bundesrat der SVP in der Westschweiz geholfen? Es wäre also aus einer staatspolitischen Perspektive schon erklärungsbedürftig, wenn nun ausgerechnet ein Tessiner, der erst seit zwei Jahre im Amt ist, abgewählt werden sollte. In der ganzen Geschichte des Bundesrates, seit 1848, wurden nur drei Bundesräte und eine Bundesrätin abgewählt.

Wie würden die Tessiner reagieren?

Nicht mehr und nicht weniger, wie die Waadtländer und andere Romands auf eine Abwahl von Guy Parmelin oder die Zürcher und andere Deutschschweizer auf eine Abwahl von Ueli Maurer reagieren würden. Einige wüden schon protestieren aber es gäbe sicher kein Aufstand. Auch weil viele Bürgerinnen und Bürger – viel mehr, als wir Politologen und Sie Journalisten denken – gar nicht daran interessiert sind, wer im Bundesrat sitzt, so lange es dem Land gut geht. 

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Zitat veröffentlicht im Tages-Anzeiger (Version Online, 15.11.19, 18:51)

Cassis solle zu seiner Politik stehen, statt sich in einer Opferrolle darzustellen, weil er einer Sprachminderheit angehöre, kritisiert der Politologe und frühere Tessiner SP-Politiker Nenad Stojanovic: «Es ist seine Politik, die stört.» Allerdings wäre es «erklärungsbedürftig», wenn ein Tessiner Bundesrat nach nur zwei Amtsjahren abgewählt würde, nachdem der Kanton vorher 18 Jahre lang nicht mehr vertreten war, findet Stojanovic. Er verweist darauf, dass der Bund Italienischsprachige verschiedentlich benachteiligt habe.

Zitat veröffentlicht im Tages-Anzeiger (Version Print, 16.11.19, S. 4)

Cassis solle zu seiner Politik stehen, statt sich in einer Opferrolle darzustellen, kritisiert der Politologe und frühere Tessiner SP-Politiker Nenad Stojanovic: «Es ist seine Politik, die stört.» Allerdings wäre es «erklärungsbedürftig», wenn ein Tessiner Bundesrat nach nur zwei Amtsjahren abgewählt würde, nachdem der Kanton vorher 18 Jahre lang nicht mehr vertreten war, findet Stojanovic.

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