Neue Zürcher Zeitung, 21.5.2013, S. 13. PDF
Nenad Stojanovic*
Der Föderalismus kann als eine besondere Form der Dezentralisierung verstanden werden, die das Zentrum schwächt und zentrifugale Kräfte stärkt. Deshalb brauchen föderale Länder Institutionen, die zentripetal wirken, um ein gewisses Gleichgewicht zwischen Zentralstaat und Gliedstaaten zu erzeugen. Die «Pavia-Gruppe», eine Initiative mehrerer belgischer Politikwissenschafter, schlägt einen solchen Mechanismus vor: Ein Teil des Parlamentes soll in einem einzigen föderalen Wahlkreis gewählt werden. In der Schweiz könnte nun die Volkswahl des Bundesrates eine ähnliche integrative und zentripetale Funktion einnehmen. Wichtige Voraussetzung ist dabei, dass sie in einem einzigen Wahlkreis nach dem Majorz durchgeführt wird.
Mehrsprachige Kampagne
Die integrale Wirkung wäre die folgende: Die Kandidaten für den Bundesrat müssten im ganzen Land eine mehrsprachige Kampagne führen und dabei die Anliegen aller Regionen berücksichtigen. Nicht aus Patriotismus, sondern schlicht und einfach, weil es in ihrem Interesse läge. Sie würden sich sogar um die vier bis fünf Prozent Tessiner Stimmen bemühen, weil in Majorzwahlen wenige Prozentpunkte oft ausschlaggebend sind. Mit anderen Worten wäre die Volkswahl eine Chance, den Zusammenhalt zwischen den Sprachregionen zu stärken.
Für die Gegner der Volkswahl des Bundesrates ist indes gerade das Gegenteil wahr: Da sieben von zehn Stimmbürgern deutschsprachig sind, hätten die französisch- und italienischsprachigen Kandidaten einen grossen Nachteil, weil sie in der Regel – wenn überhaupt – nicht perfekt Deutsch können, von Schweizerdeutsch ganz zu schweigen (das gilt nicht für die Rätoromanen, die fast ausnahmslos Schweizerdeutsch sprechen.) Nicht umsonst haben alle drei Volksinitiativen für die Volkswahl des Bundesrates (1900, 1942, 2013) eine Sitzgarantie für die lateinische Schweiz vorgesehen.
Vergleich zu Abstimmungen
Anders als Wahlen erfolgen heute Volksabstimmungen landesweit – also als ob die Schweiz ein zentralisiertes und homogenes Land wäre. Zumeist entscheidet hier die absolute Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Stimmbürger. Es gibt – einmal abgesehen vom Doppelmehr von Volk und Ständen – keine besonderen Schutzmechanismen für die Minderheiten. Dennoch funktioniert die direkte Demokratie. Sie hat eine zentripetale Wirkung, die den nationalen Zusammenhalt langfristig stärkt.
Hier finden sich Parallelen zur vorgeschlagenen Volkswahl des Bundesrates. Diese wäre demgemäss kein Nachteil für die Minderheiten, sondern eine Chance für den Zusammenhalt des Landes. Sogar die italienischsprachigen Schweizer dürften sich freuen, weil der Status quo für sie viel ungünstiger ist. Mit einer einzigen Ausnahme im 20. Jahrhundert kamen alle Tessiner Bundesräte stets aus den Reihen der CVP. Seitdem diese Partei nur noch einen Sitz im Bundesrat hat, sind die Chancen der Italienischsprachigen stark gesunken, weil weder die SP noch die FDP ihren Deutsch- oder Westschweizer Sitz an die Tessiner oder italienischsprachigen Bündner abgeben wollen.
«Regionen-Klausel»
Beispiele aus mehrsprachigen Kantonen, in denen es bei Regierungsratswahlen keine Quoten für Sprachminderheiten gibt, bestätigen, dass die Sprachminderheiten bei einer direkten Wahl der Exekutive nicht benachteiligt werden. Die SVP-Initiative enthält nun aber eine schlecht durchdachte Quote für die «lateinische Schweiz», wodurch die zentripetale Wirkung der Volkswahl aufgehoben würde: Für die Umsetzung dieser Quote würde das Land in zwei Sprachregionen aufgeteilt, wobei die Stimmen der lateinischen Bürger mehr Gewicht hätten als diejenigen der deutschsprachigen, und die Stimmen der italienischsprachigen denjenigen aus der Westschweiz klar unterlegen wären.
Das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Landesgegenden und Sprachen könnte durch eine indirekte und flexiblere Regelung besser gesichert werden, etwa in Anlehnung an die frühere Kantonsklausel in einer Art «Regionen-Klausel», wie sie in Vorstössen schon formuliert wurde. Solche Regelungen würden ausreichend gewährleisten, dass die Parteien bei der Kandidatenauswahl regionalen und sprachlichen Aspekten Rechnung tragen.
*Nenad Stojanovic ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Demokratie Aarau, Universität Zürich.