NZZ am Sonntag, 24.7.2017. PDF
Der Fall von Funda Yilmaz aus Buchs zeigt, dass bei Einbürgerungen immer noch viel schiefläuft. Was ist zu tun, damit die Mitbestimmung der Gemeinde erhalten bleibt, aber die Diskriminierung aufhört?
Von Daniel Meier und Anja Burri
Vielleicht wurde Funda Yilmaz der Titlis zum Verhängnis. Der liegt zwar gar nicht im Aargau, aber unglücklicherweise erwähnte die junge Türkin vor der Einbürgerungskommission in Buchs, sie sei einmal mit dem Snowboard in Engelberg gewesen. An diesem Punkt haken die Politiker nach und wollen plötzlich wissen, wie gut sie sich dort auskenne. «Gibt es in Engelberg auch einen bestimmten Berg?», fragen sie. Sicher, antwortet die nervöse Kandidatin, aber sie könne sich Namen nicht merken.
Funda Yilmaz kennt den Titlis nicht. Sie weiss auch nicht, dass der Engelberg kein Berg ist. Sie darf nicht Schweizerin werden.
Welche ihrer 92 Antworten den Ausschlag gaben, wissen wir nicht. Aber inzwischen kennen alle die abstrusen Fragen der Einbürgerungsexperten aus Buchs. Sie wollten wissen, was Yilmaz von Erdogan halte. Oder was an Ostern gefeiert werde. Die «Schweizer Illustrierte» hat das Protokoll veröffentlicht. Der Fall sorgt bis nach China für Schlagzeilen.
Funda Yilmaz, 25, in der Schweiz geboren, hier zur Schule gegangen, spricht perfekt Deutsch und Mundart, einwandfreier Leumund, verlobt mit einem Schweizer, arbeitet als Bauzeichnerin in Aarau. Im schriftlichen Staatskundetest hat sie keinen einzigen Fehler gemacht. Aber zwei Gespräche mit der zuständigen Kommission führten dazu, dass ihr Antrag im Juni vom Buchser Parlament abgelehnt wurde. Dagegen wehrt sich Yilmaz.
«Solche Fälle kommen häufiger vor als man denkt», sagt Nenad Stojanovi, Politologe und Tessiner SP-Politiker. Von Willkür und Ungerechtigkeiten bei Einbürgerungen sei zwar oft die Rede, meist werde das aber nicht publik. «Ich bin froh, dass Funda Yilmaz den Mut hatte, an die Öffentlichkeit zu gehen. Vielleicht führt dieser Fall dazu, dass die Verfahren weiter verbessert werden müssen.»
Tatsächlich sorgen abgeschmetterte Fälle immer wieder für Aufsehen. Etwa der ETH-Professor aus den USA, der nach 39 Jahren in Einsiedeln (SZ) angeblich zu wenig integriert war. Oder die kosovarische Familie, der in Bubendorf (BL) vorgeworfen wurde, in Trainerhosen durchs Dorf gelaufen zu sein. Oder die Niederländerin, militante Tierschützerin und Kirchenglocken-Gegnerin, die in Gipf-Oberfrick (AG) mehrmals abgelehnt wurde.
Hört man sich um, stösst man bald auf weitere Fälle. Der Zürcher Anwalt Marc Spescha, der regelmässig abgelehnte Gesuchsteller vertritt, hält den Fall Yilmaz für «besonders krass». Die Kommission in Buchs habe eine abwegige Vorstellung von Integration, die rechtlich nicht haltbar sei. Aber Spescha sagt: «In vielen Orten werden nach wie vor Gesuche mit willkürlichen oder diskriminierenden Pseudo-Begründungen abgelehnt.» Bald 40Jahre nach Rolf Lyssys Film «Die Schweizermacher» möchte man glauben, dass Einbürgerungen professionell behandelt werden. Das Yilmaz-Protokoll beweist das Gegenteil.
Den Gemeinden und Kantonen wurde schon bei der Gründung des Bundesstaats 1848 zugesichert, selber über das Bürgerrecht entscheiden zu können. 1903 wurden die Hürden gesenkt – um den Ausländeranteil zu senken und die Assimilation der Zuwanderer zu beschleunigen. Man bürgerte also ein, um rascher zu integrieren. Erst später wurden die Regeln verschärft und der Mechanismus gedreht: zuerst die Integration, dann der Pass.
2003 hat das Bundesgericht die Art und Weise, wie eingebürgert wird, tiefgreifend verändert. Zum einen hatten die Richter über die Volksinitiative «Einbürgerungen vors Volk» der SVP der Stadt Zürich zu befinden, die für ungültig erklärt worden war. Und zum anderen über den Fall Emmen: In der Luzerner Stadt waren bei einer Urnenabstimmung von 23 Einbürgerungsgesuchen nur 8 bewilligt worden. Fast alle abgelehnten Ausländer stammten aus Ex-Jugoslawien, die angenommenen dagegen aus Italien. Zusammengefasst lautete das klare Urteil: An der Urne über Einbürgerungen abstimmen zu lassen, ist verfassungswidrig. Zudem muss jeder Ablehnungsentscheid künftig begründet werden. Während die Linke jubelte, übte die Rechte scharfe Kritik. Die Richter wurden sogar beschimpft. Doch die Abstimmungen an der Urne, von denen es ohnehin nicht mehr viele gab, waren bald ganz verschwunden.
Letztlich stehen direkte Demokratie und Verfassung im Widerspruch. Gemäss Artikel 8 darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht wegen seiner Herkunft oder Rasse. Genau das passiert aber, wenn man wie in Emmen zulässt, dass die Bürger daheim auf einem Zettel ihre Kreuze neben fremd klingende Namen setzen dürfen. Und die Gefahr besteht auch heute noch, wenn die Einwohner im einem Gemeindesaal in geheimer Wahl für oder gegen einen Albaner stimmen.
Wie stark sich das Bundesgerichturteil auswirkte, zeigte sich erst später. 2013 werteten die Politikwissenschafter Dominik Hangartner und Jens Hainmueller über 2400 Einbürgerungsanträge von 1970 bis 2003 aus und wiesen nach, dass Emmen kein Einzelfall war. Vielmehr sind Migranten landesweit und systematisch diskriminiert worden, indem ihre Gesuche an der Urne oder an Gemeindeversammlungen abgelehnt wurden. Das Herkunftsland wirkte sich mit Abstand am stärksten auf den Entscheid aus. Kaum eine Rolle spielten Sprachkenntnisse oder die Integration. Die Anträge von Menschen aus der Türkei und Ex-Jugoslawien wurden zehnmal so oft abgelehnt wie vergleichbare Gesuche von Italienern oder Spaniern. Zudem zeigte sich: Je höher der Wähleranteil der SVP in einer Gemeinde, desto stärker wird diskriminiert.
50 Prozent mehr Zustimmung
Noch klarer wurde das Bild, als die Wissenschafter die Daten von 1991 bis 2009 aus 1400 Gemeinden untersuchten. Rund 600 von ihnen hatten ihr System nach dem Bundesgerichtsurteil umgestellt – von direkter auf repräsentative Demokratie: Statt die Bürger entschieden nun die Exekutive, das Parlament oder eine spezialisierte Kommission. Und siehe da: Plötzlich wurden die Pässe viel grosszügiger verteilt, die Zustimmungsrate schnellte im ersten Jahr um 50 Prozent nach oben. Besonders deutlich spürten das jene, die zuvor am meisten Mühe hatten: Die Erfolgsquoten von Leuten aus der Türkei und aus Ex-Jugoslawien stiegen um 68 und 75 Prozent.
Die Willkommenskultur jener Jahre schlug sich in der nationalen Einbürgerungsstatistik nieder. Mit 47607 Einbürgerungen wurde 2006 der bisherige Spitzenwert erreicht. Gemäss der Studie wären ohne den Systemwechsel in den 600 Orten allein in den ersten fünf Jahren 12000 Migranten weniger eingebürgert worden. Der Effekt schwächte sich später wieder ab. Dass die Abkehr von der direkten Demokratie eine Einbürgerungswelle auslöste, beweist: Gewählte Politiker entscheiden weniger restriktiv als ihre Wähler. Hangartner führt das darauf zurück, dass die Politiker befürchten, ein möglicher Rekurs falle auf sie zurück. Den anonymen Stimmbürger brauche das nicht zu kümmern. Erfolgreiche Rekurse wirken sich tatsächlich aus: Korrigiert ein Gericht den negativen Entscheid eines gewählten Gremiums, bürgert dieses im Folgejahr viel mehr Personen ein.
Obwohl sich das Bundesgericht nicht zu Einbürgerungen an Gemeindeversammlungen geäussert hatte, wurde indirekt auch diese urdemokratische Gepflogenheit infrage gestellt, weil die Entscheide fortan begründet werden mussten. Noch vor dem Urteil wurde über jede zweite Einbürgerung an einer Gemeindeversammlung entschieden. Heute dürfte es noch in 800 Gemeinden so sein, was etwa einem Drittel entspricht.
Ohne Tricks geht das nicht. Nicht selten muss der Gemeindeschreiber aus den Wortmeldungen an einer Gemeindeversammlung nachträglich eine Begründung verfassen. Das ist juristisch heikel, weil in jedem Gemeindesaal ungeprüfte Behauptungen vom Hörensagen vorgebracht werden können. Kürzlich berichtete das «Zofinger Tagblatt» über einen 19-jährigen Kosovaren, dessen Gesuch an der Oftringer Gemeindeversammlung mit 78 zu 16 Stimmen abgelehnt worden war. Der Mann hatte alle Kriterien erfüllt, die Behörde empfahl die Annahme. Doch im Saal ergriff ein junger Mann das Wort und behauptete, der Kosovare mache «komische Sachen» und habe zu wenig Respekt vor der schweizerischen Kultur. Das genügte, die Stimmung kippte. Inzwischen wurde der Entscheid korrigiert. Die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos.
ETH-Professor Hangartner spricht sich klar gegen Einbürgerungen im Gemeindesaal aus: «An Versammlungen kann man den Stimmberechtigten nicht genügend Informationen geben, ohne die Privatsphäre des Antragstellers und den Datenschutz zu verletzen. Dadurch provoziert man fast zwangsläufig Bauchentscheide.» Urteile hingegen eine Exekutive, ein Parlament oder eine Kommission, sinke das Risiko von diskriminierenden Ablehnungen.
Doch der Fall Yilmaz zeigt gerade, dass auch das repräsentativ-demokratische System versagen kann. Das missglückte Gespräch wurde von der Einbürgerungskommission mit sechs gewählten Politikern geführt. In Einzelfällen könne es zu Problemen kommen, räumt Hangartner ein: «Doch im Durchschnitt führen solche Modelle zu weniger Diskriminierung.» Und da eine Kommission ihre Gespräche protokollieren und Ablehnungen begründen müsse, könne man Fehlentscheide im Nachhinein einfacher korrigieren.
Neue Kriterien ab 2018
Wie aber müsste ein optimales Verfahren aussehen? Die Prüfung der harten Kriterien wie finanzielle Verhältnisse, Leumund, Arbeitssituation, Sozialhilfe, Wohnsitzdauer kann man getrost der Verwaltung überlassen, weil die Antworten stets «erfüllt» oder «nicht erfüllt» lauten. Bei den sprachlichen Fähigkeiten stellen heute viele Behörden auf gängige Tests ab und verlangen ein bestimmtes Niveau.
Ein ewiger Streitpunkt bleiben die Geografiekenntnisse. SVP-Nationalrat Andreas Glarner berichtete diese Woche in der Sendung «Talk täglich», in seinem Wohnort Oberwil-Lieli, ebenfalls im Aargau gelegen, werde gar keine geografische Frage mehr gestellt: «Wir haben das Gefühl, das ist nicht wichtig.»
Eine erstaunliche Nachlässigkeit. Denn im Januar 2018 tritt eine neue Bürgerrechtsverordnung in Kraft, in der das ausdrücklich vorgeschrieben ist. Bis jetzt musste man mit «schweizerischen Lebensgewohnheiten, Sitten und Gebräuchen» vertraut sein. Nun werden «Grundkenntnisse der geografischen, historischen, politischen, gesellschaftlichen Verhältnisse in der Schweiz» verlangt. Auch das lässt sich mit einem Test prüfen. Ob der Kandidat aber drei oder zehn Berge in der Region kennen muss, ist offen. Als Richtschnur für den Staatskundeteil sollte stets der Wissensstand der lokalen Bevölkerung dienen.
Die Integration bildet den schwierigsten Aspekt. Wann ist ein Ausländer integriert? Aufgrund welcher Kriterien misst man das? Die neue Verordnung verlangt, der Kandidat müsse «am sozialen und kulturellen Leben der Gesellschaft in der Schweiz» teilnehmen sowie «Kontakte zu Schweizerinnen und Schweizern» pflegen. Doch wie viele Kontakte sollen es denn sein? Will man tatsächlich die Mitgliedschaft in Vereinen verlangen? Und wenn ja, wie viele? Gilt jeder Verein, oder müssen sich diese zuerst zertifizieren lassen?
Das Yilmaz-Protokoll dreht sich immer wieder um diesen Punkt. Die Kommissionsmitglieder fragen die Türkin, wo sie in den Ausgang gehe, ob sie sich mit Schweizern aus Buchs treffe, in Vereinen mitmache und wo sie einkaufe. Migros und Aldi, antwortet Yilmaz, worauf die Aktennotiz erfolgt: «Beides Grossverteiler, welche von vielen auch auswärtigen Kunden besucht werden.» Das dürfte für viele Ausländer neu sein: Kaufen sie in der Migros ein, gefährden sie ihre Integration.
«Die Fragen müssen in Bezug auf die Integration relevant sein, und es muss klar sein, welche Antwort wie viele Punkte gibt», erklärt Hangartner. Er sprach mit vielen Gemeindeschreibern und hatte Einblick in sehr unterschiedliche Fragebögen. «Die Arbeit der Einbürgerungsgremien ist alles andere als leicht. Viele bemühen sich aufrichtig um ein faires Verfahren», lobt er. Doch um Diskriminierungen zu vermeiden und gleiche Chancen für alle zu garantieren, müssten die Fragebögen vereinheitlicht werden. Hangartner erarbeitet nun einen Gesprächsleitfaden, der den Gemeinden helfen soll.
Die Befragung in Buchs lief auch deshalb aus dem Ruder, weil die Struktur fehlte. Es ist offensichtlich, dass sich Yilmaz verhedderte und immer nervöser wurde. Die Fragesteller liessen nicht locker, stattdessen bohrten sie bei jeder Schwachstelle nach. Hätten sie sich an einen standardisierten Katalog mit sachlichen Fragen gehalten, wäre das nicht passiert.
Erst wenn es gelänge, landesweit ein einheitliches, überprüfbares System zu etablieren, hätten die Schweizermacher ausgedient. Theoretisch müssten sich dann auch die Einbürgerungsraten der Gemeinden angleichen. Allerdings fragt sich, ob man noch von echter Mitbestimmung sprechen könnte. Lesen die lokalen Behörden nur noch einen vorgegeben Fragebogen vor, sieht es nach Folklore aus.
«Politische Unterschiede kann es weiterhin geben», findet Hangartner. Eine Gemeinde mit hohem SVP-Anteil könne durchaus restriktiver einbürgern als andere. «Die Kriterien müssen messbar, objektiv und integrationsrelevant sein, aber man kann die Messelatte verschieden hoch ansetzen.» Konkret hiesse das: Zwei Gemeinden stellen die gleichen Fragen zur Integration, doch am einen Ort muss man 70 Punkte erreichen, am anderen nur 50. Somit würde die unterschiedlich strenge Einbürgerungspraxis zu einem Standortfaktor wie der Steuerfuss. Das wäre für Ausländer, aber auch für Schweizer aufschlussreich.
Die Kommission schrieb über Funda Yilmaz: «Sie lebt in ihrer kleinen Welt und zeigt kein Interesse, sich mit der Schweiz und der Bevölkerung auf einen Dialog einzulassen.» Die Frau lebt hier, sie arbeitet täglich mit Menschen aus der Region zusammen, sie ist mit einem Schweizer verlobt. In einem Brief antwortete sie der Behörde: «Ich bin oft in der ganzen Schweiz unterwegs und besuche Baustellen. Meine Welt ist nicht klein. Diese Aussage verletzt mich.» Ihr Rekurs ist hängig.