Sitzgarantie für Berner Jura?

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Der Bund, 30.5.2012, p. 10 (link PDF)

Tribüne: Weshalb eine Nationalrats-Quote für Sprachminderheiten unnötig ist

Sitzgarantie für Berner Jura?

Nenad Stojanovic*

Sollen die Sprachminderheiten der mehrsprachigen Kantone eine Sitzgarantie im Nationalrat erhalten? Der Regierungsrat des Kantons Bern bejaht diese Frage und schlägt vor, einen Vorstoss des Grossrats Maxime Zuber vom Parti socialiste autonome als Standesinitiative zu überweisen. Auslöser dieses Vorschlags war die Abwahl eines SVP-Nationalrats aus dem Berner Jura im Oktober 2011. Zum ersten Mal seit 1848, so Zuber, hat der Berner Jura keinen Vertreter mehr im Nationalrat. (Interessanterweise blieb in dieser Diskussion unerwähnt, dass auch der zweite französischsprachige Berner Nationalrat, Ricardo Lumengo aus Biel, abgewählt wurde.)

Zuber will aber keine Sonderlösung für den Berner Jura, sondern eine allgemeine Reform, die allen Sprachminderheiten der mehrsprachigen Kantone “eine bestimmte Anzahl Sitze” im Nationalrat zusichern soll. Die Anzahl dieser Sitze muss “mindestens der Bevölkerungsstärke der betreffenden Minderheit” entsprechen.

Ist eine solche Sitzgarantie überhaupt nötig? Die Fakten sprechen dagegen. Im Zeitraum zwischen 1979 und 2011 waren fast alle Minderheiten der vier mehrsprachigen Kantone angemessen im Nationalrat vertreten (vgl. Tabelle). Das Verhältnis zwischen dem Anteil an Nationalratssitzen und dem Anteil der Schweizer Bevölkerung in den jeweiligen Kantonen war in Freiburg und im Wallis beinahe perfekt (1:1): Die Deutschfreiburger hatten durchschnittlich 33,0% und die Oberwalliser 33,9% der Sitze innerhalb ihrer kantonalen Deputationen im Nationalrat. Die Französischsprachigen hatten 9,5% der Berner Nationalratssitze inne. Dies stellt eine gewisse Übervertretung des Berner Jura dar, entspricht aber fast genau dem Anteil der französischsprachigen Schweizer im ganzen Kanton Bern. Hingegen waren die Rätoromanen, mit einem Anteil von 55,0% an den Bündner Nationalratssitzen, deutlich übervertreten: nämlich 2,7 Mal mehr als ihr Anteil an der Schweizer Bevölkerung in Graubünden.

Die einzige Ausnahme betrifft die italienischsprachigen Bündner: Sie hatten nur 2,5% der Nationalratssitze inne, gegenüber einem Anteil von ca. 9% in der Bevölkerung. Mit der Wahl von Silva Semadeni im Oktober 2011 wurde diese Untervertretung aber nach oben korrigiert, sodass die Italienischsprachigen heute 1/5 der Bündner Deputation in der aktuellen Legislatur stellen.

Angesichts dieser Lage ist davon auszugehen, dass das Bundesparlament die Berner Standesinitiative nicht annehmen wird. Ein Eingriff in den bestehenden, bewährten und auf föderalistischen Grundsätzen basierenden Status Quo (d.h. ein Kanton entspricht einem Wahlkreis) wird wohl als unverhältnismässig beurteilt werden.

Die jetzige Abwesenheit der Bern-Jurassier im Nationalrat ist zwar bedauerlich, es kann aber mit grosser Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass sich die übliche Vertretung in den nächsten Wahlen wiederherstellen wird. Zwei Tatsachen sprechen dafür.

Erstens, aus historischen und strategischen Gründen sind die Berner Kantonalparteien gegenüber den Vertretungsansprüchen des Berner Jura sensibel. Nicht selten figurierten die französischsprachigen Kandidaten ganz oben auf den Wahllisten und/oder wurden zweimal aufgeführt.

Zweitens erleichtert die grosse Anzahl der Berner Nationalratssitze (26) die Wahl französischsprachiger Kandidaten.

Wahrscheinlich ist sich auch der Berner Regierungsrat dieser Tatsache bewusst. Mit seinem Entscheid, “aus einer grundsätzlichen staatspolitischen Sicht” dem Vorschlag Zubers zuzustimmen, wollte die Regierung die Spannungen mit den Autonomisten im Berner Jura nicht unnötig anheizen. Es ist für ihn sicher geschickter, wenn der Vorschlag vom Bundesparlament abgelehnt wird.

*Nenad Stojanovic ist Politologe, Forscher am Zentrum für Demokratie Aarau und Lehrbeauftragter an den Universitäten Genf, Lausanne und Zürich.

Tabelle: Sprachen und Nationalratssitze in den vier mehrsprachigen Kantonen

Kanton

Sprachen*

Anteil (%) der Sprachgruppen im jeweiligen Kanton**

Anteil (%) Nationalratssitze pro Sprachgruppe innerhalb der kantonalen Deputation***

Bern

Deutsch

Französisch

90,5

8,8

90,5

9,5

Freiburg

Französisch

Deutsch

65,5

33,1

67,0

33,0

Graubünden

Deutsch

Rätoromanisch

Italienisch

69,8

20,3

8,8

42,5

55,0

2,5

Wallis

Französisch

Deutsch

65,2

33,6

66,1

33,9

*Nur offizielle Kantonssprachen; **Durchschnitt gemäss den Volkszählungen von 1980 bis 2000 (nur Schweizer Bürger); *** Durchschnitt gemäss den Ergebnissen der Nationalratswahlen von 1979 bis 2007. Quelle: Stojanovic, Nenad (2008) ‘How to solve the dilemma of power sharing? Formal and informal patterns of representation in the Swiss multilingual cantons’, Representation, Vol. 44, Nr. 3, pp. 239-253.

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