Achtung, fertig, Los!

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Das Losverfahren gehörte einst zur Schweizer Demokratie. Zeit, es zu reaktiviren.

Die Zeit, 26. September 2019 | (Zeit Schweiz; S. 19; Ausg. 40)

Von Nenad Stojanović und Alexander Geisler

Die Wahl gilt als Herzstück jeder Demokratie, als ihr Alpha und Omega. Das ist richtig, aber auch falsch. Denn in den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler und demokratische Aktivisten begonnen, das Los als Auswahlverfahren wiederzuentdecken. Wieder, weil es lange Zeit die demokratische Methode par excellence war, vom antiken Athen über die Republiken in Norditalien bis hin zur Schweiz: Während der Helvetischen Republik (17981803) so wie in mehreren Städten (wie Sitten) und Kantonen (wie Glarus bis 1836) war es üblich, Politiker per Los in ihr Amt zu hieven. Danach setzte sich die Idee durch, wonach die Legitimität der Herrscher die Zustimmung der Herrschenden braucht, also gewählt werden muss.

Doch so schön die Idee, so wenig wird sie in der gegenwärtigen Wahldemokratie, etwa in der Schweiz oder in Deutschland, nachgelebt. Ein typischer Wähler hat der Mehrheit der Parlamentsmitglieder nicht zugestimmt. Zwar hat jedes Mitglied des Stimmvolkes eine Stimme, aber tief liegende Ungleichheiten prägen die Wahlchancen der einzelnen Kandidaten. Wer zum Beispiel mehr Geld oder einen lokalen Familiennamen trägt, wird eher Mandatsträger als Personen mit bescheidenen Ressourcen oder einem -ić im Namen.

Da die Demokratie auf dem Grundsatz der Gleichheit basiert, sind solche Tendenzen höchst problematisch. Dies, aber auch die gegenwärtige »Krise der Demokratie« bringt das Losverfahren wieder ins Gespräch. Nicht als Ersatz, sondern als Zusatz zu Wahlen. In Belgien, Kanada, Australien, Irland, Deutschland, den USA und anderen Ländern wird mit sogenannten  mini-publics experimentiert. Bürgerinnen und Bürger werden für ein Panel oder Bürgerforum ausgelost. Je nach Land kommen so die Meinungen von 20 bis 1000 Personen zusammen. Die Schlussfolgerungen werden in der Regel den gewählten Behörden überreicht. 

Neben diesen experimentellen Bürgerpanels gibt es erste institutionalisierte Los-Demokratien: im US-Staat Oregon und in Ostbelgien. In Ostbelgien wird jedes zweite Mitglied des 24-köpfigen Bürgerrats für eine Amtszeit von anderthalb Jahren gelost. Diese zufällig bestimmten Mitglieder können die Agenda des Parlamentes der Deutschsprachigen Gemeinschaft beeinflussen und Bürgerversammlungen einberufen. Doch während die gewählte Legislative konkret Macht ausüben kann, ist diejenige des ausgelosten Bürgerrats beschränkt: Das Parlament ist lediglich verpflichtet, die Vorschläge des Bürgerrates zu begutachten, hat am Ende aber das letzte Wort.

In Oregon diskutiert eine Gruppe von 20 per Los gezogenen Bürgerinnen und Bürgern über vier Tage eine Vorlage. Sie hören unabhängige Experten an sowie die »Ja«- und die »Nein«-Seite des entsprechenden Politgeschäfts. Am Ende verfassen sie einen Bürgerbrief, in dem sie kurz und in verständlicher Sprache die wichtigsten Argumente verfassen und an alle Stimmberechtigten verschicken.

Für die direkte Demokratie in der Schweiz ist das Oregon-Modell besonders vielversprechend. Dank Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) können wir dieses im Rahmen des Projektes »Demoscan« im Kanton Wallis testen. Im November kommen in Sitten während zweier Wochenenden 20 Teilnehmer zusammen, um über eine eidgenössische Vorlage zu debattieren. Das Losverfahren garantiert jedem Mitglied der politischen Gemeinschaft die gleiche Chance, ausgelost zu werden. Die viertägige Auseinandersetzung mit dem Thema soll eine Art Schule der Demokratie sein, in der man sich mit den Argumenten der Gegner befasst und, wenn nötig, die eigene Position ändert. Die Schlussfolgerungen werden, wie in Oregon, in Form eines Bürgerbriefes an alle Stimmberechtigten von Sitten verschickt, zusätzlich zum Abstimmungsbüchlein für den Urnengang vom 9. Februar 2020.

Anfang August wurden 2000 Bürgerinnen und Bürger ausgelost und eingeladen, sich für eine Teilnahme zu bewerben. 205 von ihnen haben zugesagt, was im internationalen Vergleich viel ist. Interessanterweise liegt die Mitmachbereitschaft bei den Frauen mit 54 Prozent weit über ihrer Repräsentation in den lokalen und nationalen Parlamenten (zum Vergleich: Im Stadtparlament von Sitten sitzen 30 Prozent Frauen; die Walliser Delegation im Nationalrat hat einen Frauenanteil von 12, jener im Ständerat von 0 Prozent).

Vergangene Woche wurden im Saal des Walliser Großen Rates die 20 Mitglieder des  »panel citoyen de Sion« per Los bestimmt. Von den 205 Freiwilligen sind 80 gekommen, ihr Enthusiasmus war spürbar. »Ich war nie aktiv in der Politik, aber nun habe ich mir gesagt, für einmal lohnt sich der Versuch«, sagte ein Teilnehmer gegenüber dem Radio Rhône FM. 

Heute ist der typische Parlamentarier ein verheirateter Mann, Jurist, ohne Migrationshintergrund und über 50 Jahre alt. Das Losverfahren kann diese Schablone aufbrechen.

Nenad Stojanović ist SNF-Professor für Politikwissenschaften an der Uni Genf.  Alexander Geisler doktoriert dort und begleitet das Projekt »Demoscan« 

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